Ingmars Geschenk

In der Regel gilt es als Tabu, etwas weiter zu verschenken. Es wird als mangelnde Wertschätzung empfunden.

Als ich noch ein Kind war hatte ich für meine Mutter zu Weihnachten ein Bild gemalt. Später habe ich überlegt, was ich meinem Opa schenken könnte. Da holte sie dieses Bild heraus. Sie sagte: „Nimm doch einfach das.“ Ich war damals sehr enttäuscht und verletzt. Das Bild war ganz persönlich nur für sie gemalt! Sie war absolut eindeutig darauf erkennbar! Wie konnte sie nur auf die Idee kommen es weiter zu verschenken? Das fühlt sich so an, als wenn man einen Monet in den feuchten Waschkeller hängt.


Vielleicht sind es solche Kindheitserfahrungen, die das Weiterverschenken in Verruf gebracht haben. Schnell springt in uns das enttäuschte Kind an und will protestieren.

Und dennoch verstehe ich den Pragmatismus meiner Mutter inzwischen besser. Sie mag sich vielleicht wirklich gefreut haben. Sie hat schon das eine oder andere Kunstwerk der Kinder bekommen. Und spätestens ab dem dritten Kind werden die Wandflächen der Wohnung knapp. Also, warum nicht dem Opa in seiner trüben in Grautönen gehaltenen Wohnung auch etwas Buntes gönnen. Eine innerfamiliäre Win-Win Situation. Eine Optimierung der prominenten Galerieflächen sozusagen und eine Freude beim Bekommen UND beim Weiterverschenken!


Es wird viel mehr weiterverschenkt, als Menschen das zugeben. Gerüchte sagen, es gäbe insgesamt nur eine einzige Schachtel Merci, das sind diese Schokoladenriegel, die zum Danke sagen immer wieder weiter verschenkt werden. Die Fabrik steht vermutlich in Bielefeld…


Menschen machen Geschenke aus ganz unterschiedlichen Gründen. Sie wollen anderen eine Freude bereiten. Sie wollen Dankbarkeit ausdrücken oder sie fühlen sich aus Höflichkeit einfach verpflichtet etwas zu verschenken.

Nicht immer treffen die Geschenke auch den Geschmack des oder der Beschenkten.

Das ist ungefähr so, wie bei den Geschmacksrichtungen der Schokoriegel, die angeblich in den Merci Packungen stecken sollen.


Auch ein Geschenk, das weiter verschenkt wird kann dem oder der ursprünglich Beschenkten große Freude machen. Es spart Geld. Es spart Zeit. Das ist gerade im stressigen Advent nicht zu unterschätzen! Ein Geschenk, das man zu Weihnachten weiter verschenken kann spart viel Zeit und Sucherei in überfüllten Einkaufszentren. Es eröffnet einen Zeitraum für einen schönen Abend, der durchaus mit der Wirkung einer geschenkten Kino- oder Theaterkarte vergleichbar ist!

Wenn man es in die Hand nimmt denkt man nochmal an die lieb gemeinte Geste! Wenn man dann sogar noch einen Menschen findet, zu dem es besser passt ist die Freude auf allen Seiten groß.


Ich habe sogar einen Schrank, in dem ich Dinge, die ich weiter verschenken möchte sorgfältig aufbewahre.


Eines Tages nahm ich ein Andachtsbuch zur Hand. Es war eines dieser Bücher, die irgend so ein mittelmäßiger Pfarrer geschrieben hatte, der sich offenbar für einen großen Literaten hielt. „Jahresanfänger“ oder so ähnlich. Aber es hatte einen sehr schönen Einband und war ideal zum Weiterverschenken. Routiniert und sorgfältig kontrollierte ich, dass auch ja keine Widmung in das Buch geschrieben war, damit mir niemand auf die Schliche kommt.

Da fiel ein handgeschriebener Zettel aus dem Buch: „Lieber Ingmar, ich weiß, Du hattest in diesem Jahr viele Rückschläge. Du denkst, du hättest viel mehr bewegen müssen. Zweifle bitte nicht an Dir selbst. Sieh die vielen kleinen Schritte und Erfahrungen, die Du gesammelt hast. Auch Jesus Christus hat einmal klein angefangen! Gottes Sohn hat einmal laufen lernen müssen. Wie oft mag er da wohl hingefallen sein? Wie klein und zaghaft mögen seine ersten Schritte gewesen sein?…“


Ich kenne keinen Ingmar! Wie lange mag dieses Buch wohl schon unterwegs sein? Wie oft wurde es wohl schon weiter verschenkt?


Dies Worte auf dem Zettel haben mich berührt. Auch ich frage mich oft, warum manche Dinge, in die ich so viel Kraft und Zeit investiert habe so wenig bewirken. Es war so, als ob der Zettel mich gefunden hätte. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht. Ich stellte mir nun zum ersten Mal vor, wie Jesus Christus wohl beim Laufenlernen ausgesehen haben mag. Wie oft fehlt mir die Geduld. Wie oft würde ich gerne sehr viel mehr bewegen. Für einen Moment konnte ich mich gut in Ingmar hineinversetzen. Es tut so gut, daran erinnert zu werden, dass ich einfach Mensch sein kann. Ich kann meinen Weg auch in kleinen Schritten und mit manchen Umwegen und Rückschlägen gehen. Ich kann trotzdem etwas – vielleicht sogar großes – bewegen.


Auch wenn ich keinen Ingmar kenne erscheint er mir doch irgendwie sympathisch. Ich fühle mich ihm sehr nahe. In welchem Stress mag er das Buch wohl weiter verschenkt und den Zettel übersehen haben?


Ich habe mir den Zettel kopiert. Danach habe ich ihn sorgfältig wieder in das Buch hinein gelegt. Ich habe es liebevoll neu verpackt und dann mit großer Freude weiter verschenkt.

Möge es auf seiner Reise noch vielen Menschen Trost und Hoffnung spenden und am Ende – vielleicht sogar wieder bei Ingmar ankommen.