Die meisten nannten ihn Jo. Auch wenn keiner wirklich seinen Namen kannte. Jo saß jeden Tag in der Innenstadt an seiner Ecke mit einer kleinen Blechdose vor dem Trafohäuschen und bettelte. Jo war eine sympatischer älterer Herr ungefähr Anfang 60.
Wenn ihm jemand etwas in seine Büchse legte bedankte er sich: „Joa Danke und einen schönen Tag noch“.
Jo saß bei Wind und Wetter an seiner Ecke. Jeden Tag.
Im Dezember hatte einen roten Mantel von der Kleidersammlung bekommen und ein betrunkener von einer Glühweintour eines Betriebsausfluges fand es witzig, ihm auch noch eine Weihnachtsmann Mütze zu schenken. „Vielleicht kriegste ja nen Job als Weihnachtsmann“, lallte er und verschwand. Jo freute sich über die warme Mütze, denn es war sehr kalt und windig geworden in der Fußgängerzone. Mit dem roten Mantel, der Mütze und seinem langen grauen Bart – an einigen Stellen vom Rauchen vergilbt – sah Jo tatsächlich aus wie der Weihnachtsmann. So steckten ihm immer wieder einige Touristen Geld für ein Foto zu.
Jo kannte die Menschen, die regelmäßig bei ihm vorbei kamen. Er wusste genau, wer wie viel gibt und wer ihm noch einen schönen Tag wünschen würde, wer ihn gar nicht ansah oder wer sogar etwas Zeit für ein kleines Gespräch hatte.
Jo kannte auch Herrn Franke gut. Er wusste, dass er meist einen 5er auspackte und mit einem hektischen „einen schönen Tag noch“ verschwand. Herr Franke schien es immer eilig zu haben. Oft telefoniert er sogar und gab den 5er und den Wunsch für den schönen Tag, ohne das Telefonat zu unterbrechen im Vorbeigehn ab.
Am Weihnachtstag war Jo unterwegs zu seinem Platz. Da sah er Herrn Franke, der es wie immer eilig hatte. Er rannte mit den Geschenken zum Auto, legte die Geschenke kurz aufs Dach. Dann klingelte sein Telefon. Nach einem kurzen Telefonat stieg er noch hastiger in sein Auto und fuhr weg. Die Geschenke, die noch auf dem Dach waren fielen nach wenigen Metern vom Auto herunter.
Jo erinnerte sich, wie er früher Geschenke besorgt hatte. Das schönste war immer die Vorfreude, jemanden wirklich überraschen zu können. Jo packte oft die gekauften Packungen aus und packte sie in kleinere und größere Pakete um, so dass niemand raten konnte, was es ist. Vom der neuen Spielkonsole wurde erstmal nur eine Schokoladentafelgroße Packung mit dem Netzteil überreicht. Wenn die Kinder dann freudig überrascht waren freute er sich jedes Mal richtig mit.
Nun dachte Jo zum ersten Mal, dass Herr Franke auch eine Familie haben könnte. Was, wenn er Kinder hat, die auf die Geschenke warten? Wahscheinlich brauchte hier ein Vater Hilfe, um seine Kinder nicht zu enttäuschen.
In einem Telefonat, dass Herr Franke im Vorbeigehen geführt hatte, hatte er eine Adresse mehrfach durchgegeben, ja geradezu buchstabiert. Das war in der Gotthelfstraße, gar nicht weit entfernt. Da beschloss Jo, die Geschenke dort hinzubringen.
Er wusste nicht, wer in der Gotthelfstraße auf die Geschenke wartete, aber er konnte sich vorstellen, wie es war, wenn Kinder an Weihnachten leer ausgingen. Er hatte einmal alles verloren und viel Enttäuschung erlebt. Vielleicht könnte er das einem anderen ersparen.
Jo kam in die Gotthelfstraße. Imposante Gründerzeithäuser mit riesigen Wohnungen und imposanten verzierungen an den Fassaden. Durch die Fenster konnte man die riesigen Stuckdecken sehen. Jo suchte die Messingschilder am Hauseingang ab. Die Tür war offen 1. Etage. Jo klingelte.
Familie Franke hatte indessen noch gar nicht bemerkt, dass die Geschenke fehlten.
Herr Franke öffnete die Tür. Er erkannte Jo sofort. Verlegen stammelte er: „Äh, das ist jetzt aber echt ungünstig. Ich habe gerade kein Kleingeld dabei. Wir haben heute auch noch Gäste eingeladen…“
Jo, wollte gerade anfangen zu erklären, dass er die Geschenke auf der Straße gefunden hatte, da rannnten schon die Kinder durch den Flur. Auch sie erkannten den Gast sofort und riefen begeistert: „Der Weihnachtsmann!“ Die Kinder hüpften freudig durch den Flur und riefen immer wieder „Der Weihnachtsmann! Der Weihnachtsmann!“ Jo zeigte auf die Geschenke. Herr Franke begann allmählich die Zusammenhänge zu verstehen und die Kinder waren sich in ihrer Freude noch sicherer: „Der Weihnachtsmann! Der Weihnachtsmann!“ Die beiden Männer sahen sich an von Vater zu Vater und wussten in dem Moment, dass sie jetzt mitspielen und in ihren Rollen bleiben müssten. Herr Franke versuchte noch halblaut zu sagen, dass der Weihnachtsman sicher gleich weiter müsste, da zerrten die Kinder Jo mit den Geschenken schon in das Wohnzimmer. Frau Franke sah Ihren Mann erschrocken an. Der zuckte mit den Schultern.
Die Kinder hatten Jo aber schon ins Herz geschlossen.
„Der Weihnachtsmann ist hier! Der echte Weihnachtsmann!“, riefen sie, während sie um Jo herumhüpften. Der kleine Hans stellte sich vor ihn, zog ängstlich aber entschlossen an seinem Bart und sah ihm prüfend ins Gesicht. Als der Bart aber nicht abging, wie beim Weihnachtsmann im Einkaufszentrum waren die Kinder nun absolut sicher, dass es wirklich nur der echte Weihnachtsmann sein konnte. Frau Franke nahm vor allem wahr, dass Jo so gar nicht weihnachtlich roch. Sie schaute auf den ausgefransten Mantel und die vergilbten Barthaare. Dann sah ihren Mann durchdringend an. Der lächelte etwas verlegen und deutete auf die Kinder.
Frau Franke warf indessen geistesgegenwärtig noch schnell eine Decke auf das Sofa, bevor der Weihnachtsmann – sich genüsslich in einen Sessel fallen ließ.
Jo spielte die Rolle des Weihnachtsmanns perfekt. Er lobte die Kinder für ihre Gedichte und fragte sicherheitshalber nach, ob auch alle brav gewesen waren. Dann überreichte er die Geschenke und erzählte den Kindern kleine Weihnachtsgeschichten.
Er erinnerte sich, wie er seinen Kindern früher Geschichten erzählt hatte. Er erzählte den Kindern von der Kälte am Nordpol, dabei wurde ihm innerlich ganz warm. Es berührte ihn tief, dass sich die Kinder so sehr über sein Dasein freuten, dass sie noch nicht einmal die Geschenke ausgepackt hatten. Wann hatte sich jemand zuletzt so über sein bloßes Dasein gefreut?
Herr und Frau Franke spürten die Freude der Kinder. Dennoch war ihnen die Situation unangenehm.
Frau Franke überlegte. Wie soll denn das gut ausgehen? Der Besuch kommt gleich und wir können Jo aber nicht hier aufnehmen. Wir haben doch gar keinen Platz. Er kann nicht einfach hier wohnen oder irgend sowas…
Herr Franke überlegte, ob es irgendwo eine Einrichtung oder eine Obdachlosenunterkunft, irgendeine Diakonieweihnachtsfeier oder so gäbe, wo man ihn hin vermitteln, hinschicken könnte. In der Zwischenzeit hatte Jo, Verzeihung der Weihnachtsmann den Kindern erklärt, dass er noch viele andere Kinder besuchen müsste, dass die Kinder weiterhin so brav sein sollten und, wie ihre Eltern auch mit armen Kindern teilen sollten. Dann ging der Weihnachtsmann durch den Flur zur Ausgangstür und verabschiedete sich höflich. Frau Franke murmelte verwirrt Danke! Herr Franke holte einen 50 Euro Schein heraus und wollte ihn gerade noch am Ausgang überreichen, da schaute ihn Jo entsetzt an. Aber der Weihnachtsmann nimmt doch kein Geld!“ sagte Jo mit einem Lächeln und schloss die Tür hinter sich. Draußen wehte ihm der kalte Wind ins Gesicht – und doch fühlte er sich warm, wie schon lange nicht mehr.